Die Würde des Menschen ist unantastbar! - Ach echt?
Maren Haukes-Kammann
(Dipl. – Sozialwissenschaftlerin)
Frauenberatungsstelle IMPULS
In meiner täglichen Arbeit begegnen mir viele Fälle massiver häuslicher und sexualisierter Gewalt. Viele (Vor-) Fälle sind polizeilich nicht erfasst, da sie nicht angezeigt oder – gar nicht so selten – bisher niemandem erzählt worden sind.
Einige Mädchen und Frauen wagen den Schritt, diese Straftaten anzuzeigen.
Dann kommt plötzlich etwas in Gang, dass für die Betroffenen nicht mehr planbar ist und bleibt. Sie können nicht mehr selbstbestimmt agieren, sondern müssen ausschließlich auf Unbekanntes und Unvorhersehbares reagieren. Und das mit dem gesamten Belastungspaket, was eine derartige Straftat sowieso schon mit sich bringt.
Die Überschrift des weiteren Prozederes lautet: „Im Zweifel für den Angeklagten“, aber was ist mit den Betroffenen? Welche Aspekte der Re-Traumatisierung ein derartiges Verfahren für Betroffene mit sich bringt, spielt im juristischen Prozedere nicht die Hauptrolle.
Die Wirklichkeit in der Arbeit mit Betroffenen ist folgende:
Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit finden bei Erwachsenen kaum statt. Diesen fehlenden Opferschutz nutzen Freunde, Bekannte, Verwandte des Täters aus, um – offiziell als Zuschauer, inoffiziell mit dem Vorsatz der Verunsicherung des Opfers – am gesamten Prozess teilzunehmen. Welche Macht der nonverbalen Kommunikation und Machtdemonstration steckt in dieser Aktion, ohne dass sie auch nur im Ansatz kritisch betrachtet wird?
Das Gruppenvergewaltigungsvideo wird im Verhandlungssaal gezeigt, möglicherweise sind die Eltern des Opfers anwesend. Auch wenn das Opfer selbst nicht anwesend ist, erfährt es eine weitere unfassbare Demütigung und Erniedrigung – und gedanklich anwesend ist es auf jeden Fall.
Geht es um die Aussage des Opfers, wird das bestehende Scham- und Schuldgefühl von der Gegenseite genutzt, jede Unsicherheit und Widersprüchlichkeit ausgeschlachtet. Aus traumatherapeutischer Sicht sind Erinnerungslücken und damit automatisch auch Widersprüchlichkeiten ganz normale Reaktionen auf derart belastende Ereignisse.
Im Sinne der Betroffenen ist schnelle und professionelle Hilfe gefragt. Der Beginn einer Therapie ist für die Dauer des Strafverfahrens allerdings nachteilig, da therapeutische Interventionen die Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit beeinflussen können. Zudem wirken scheinbar stabilisierte Opfer nicht authentisch genug. Eigentlich unfassbar!
Am Ende bleiben Urteile zurück, die nicht selten lauten: Verfahrenseinstellung, Bewährungsstrafen, Sozialstunden, sexualtherapeutischen Einheiten für den Täter...
Was bleibt für die Betroffenen? Re-Traumatisierung durch das Verfahren, alptraumbelastete Nächte, permanente Trigger-Situationen, Kontaktabbrüche, Vertrauensverlust, Beziehungsschwierigkeiten…
Die Pflege der verletzten Seele und der ziemlich angetasteten Würde bleibt eine schwierige Lebensaufgabe.